Mittwoch, 31. Oktober 2012

Geh mir doch weg IX: Halbe Ewigkeit

Peter Wunderlich war frustriert. Denken bringt Unglück. Er hatte sich endlich mal wieder neue Platten geholt. Zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)

War voller Vorfreude nach Hause gefahren und wollte endlich mal wieder die Regler richtig hoch reißen. Die neue Seeed! Mannmannmann. Erstes Album seit sieben Jahren. Wie es sich gehört auf Vinyl. Er war gespannt. Die erste Single hatte ihn nicht gerade umgehauen. Ganz nett, aber flach. Auch das Video, das als groß angekündigte Weltpremiere im Ersten lief, war enttäuschend. So ist das, wenn man auf etwas sehr lange gewartet hat, dachte Peter, erst wird man heiß gemacht und muss dann schnell enttäuscht feststellen, dass die Vorfreude vielleicht das Beste an dem Ganzen gewesen ist. Aber die zweite Single war gottseidank auf Deutsch. Und man konnte Peter Fox deutlich raushören. Jaaaa, das ging gut los. Mächtig nach vorne. Zentnerschwere Bässe. Mörder-Groove. Fein. Und jetzt das Album. Hoffentlich keine Enttäuschung. Und nicht zu kurz. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Er hatte vor zwei Tagen das neue Album von Rickie Lee Jones endlich per Luftpost aus den Staaten bekommen. Er stand ja auf die Ex von Tom Waits. Hatte sie zweimal live gesehen und war immer noch fasziniert von dieser Stimme. Dieser Virtuosität. Dieser Laszivität. Noch eine -tät? Bestimmt, aber ihm fiel keine mehr ein. Aber er war auch skeptisch gewesen. Nur Cover-Versionen? Keine neuen eigenen Songs? Warum? Sicher, er schätzte Cover-Versionen. Zumindest wenn sie dem Original irgendwas entgegenzusetzen hatten. Am liebsten war es ihm, wenn man das Original nur noch am Text und selbst dann nicht mal auf Anhieb erkannte. Wenn Arrangement und Interpretation etwas Neues entstehen ließen, das nur in den Wörtern eine - zugegeben - recht große Schnittmenge hatte. Aber der alte Zauber von 'Pirates' wollte sich nicht mehr einstellen. Und zu kurz war die Scheibe definitiv auch. 46:36 Minuten. Büschen mau, Rickie, sagte Peter zu sich selbst. Nicht übel, klar. Geht ja gar nicht. Frau Jones liefert doch keinen Schrott ab. Und dann diese Stimme. Sie könnte die Pfarrnachrichten vertonen, er würde das Album kaufen. 

Aber so ist das eben, wenn die Latte der Erwartungen auf Weltrekordniveau liegt: Man kann eigentlich nur drunter herfliegen. Und jetzt Seeed! Er hatte ne Karte für Oberhausen, war nach der  Statusmeldung der Band auf ihrer Facebookseite offenbar der Schnellste in der Kartenverlosung im Internet gewesen und hatte einen feinen Platz ergattert. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Einen sehr feinen. Reihe 1, Sitz 1. Standesgemäß. Aber erst die Platte. Er konnte ja schlecht in vier Wochen zum Konzert gehen und das Album noch nicht kennen. War ja nur der halbe Spaß. Er regelte die Bässe noch etwas nach oben, warf den Thorens an und setzte vorsichtig die Nadel auf. Ein fettes Wupp in den Boxen. Gefolgt von dem wohlvertrauten Knistern, ganz schwach, wie ein weißes Rauschen auf dem Trommelfell. Und jetzt, jetzt ging gleich die Party los. Klöck.

Wie jetzt, klöck? Die Anlage war aus. Standby. Peter blickte sich um. Hatte da jemand mit der Fernbedienung gespielt? Die lag seit Jahren in seiner Nachttischschublade, er wusste gar nicht, ob es die Batterien noch taten. Kaum denkbar. Hoffentlich waren die nicht ausgelaufen. In der kleinen Wohnung brauchte er keine Fernbedienung. Da lag ja nix fern, alles einen Handgriff entfernt. Und er stand sowieso viel zu gerne vor seiner Anlage. Und regelte alles per Hand. Zudem: Wer sollte das gewesen sein, der ihm diesen Streich spielte? 

Er war seit dreieinhalb Jahren solo. Nachdem ihn Bettina Knall auf Fall verlassen hatte. Zumindest für ihn war die Trennung mal wieder überraschend gekommen. Aber was sollte er machen, er war schließlich ein Mann und hörte Nachtigallen selten trapsen - selbst wenn sie mit Stahlkappenschuhen steptanzten. Ische lag faul auf dem Sofa und blinzelte träge mit einem Auge in die herbstliche Mittagssonne. Der Hund tat unschuldig. Peter ging zu seinem alten Denon-Verstärker und schaltete von Standby wieder auf Power. Der Thorens hatte sich ohnehin fleißig weitergedreht, er hatte seinen eigenen Strom. Und sowieso keinen neumodischen Schnickschnack wie Standby oder Fernbedienung. Tonarm rauf, Tonarm runter. 33 oder 45. Fertig. Nächster Versuch. Nadel wieder in die Anfangsrille setzen. Wupp, Knistern - und jetzt, jetzt ging die Party wirklich los. Yeaaah! Fette Bässe, Intro, Peter Fox am Start. Klöck. Standby. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Maaaaaann! Peter rastete aus. Was ist mit dem Teil? Komisch, er hatte gestern noch vor der Anlage gestanden und sich gefreut, dass die noch lief. Immer gelaufen war. Nie den Dienst versagte. Gute alte Wertarbeit, hatte er noch gedacht. Unkaputtbar. Er hatte sich die Anlage damals nach und nach zusammengestellt. Wie er sie immer haben wollte. 1988 war das. Magnat-Boxen, Onkyo-Verstärker, Onkyo-Receiver, Dual-Doppeltape, Philips-CD-Player. Alles Testsieger, alles Referenzgeräte. 1989 kam dann endlich der Thorens dazu, auf den er ein Jahr gespart hatte. 700 Mark kostete der Bentley unter den Plattenspielern damals - das ging nicht mal so eben aus der Lameng. Und von seinem ersten Redakteursgehalt konnte er das nicht abzwacken. Er musste erstmal ein paar Schulden abtragen, die er im Grundstudium angehäuft hatte. 

24 Jahre hielt die Anlage jetzt schon. Und sie war verdammt oft auf Herz und Nieren getestet worden. Damals bei den legendären Spontan-Partys in der Dortmunder Straße, in seiner alten WG. Hatte immer brav Dienst geschoben und Tausende von Platten, Hunderte CDs und Tapes abgespielt. Acht bis zehn Stunden am Stück, bei voller Leistungsbereitschaft. Und alle Geräte taten es noch. Gut, das Tape war nicht mehr angeschlossen, heute hing schließlich ein CD-Player, ein CD-Recorder, ein DVD-Player und der iPod am Receiver und so viele externe Anschlüsse hatte der alte Onkyo noch gar nicht. Aber wenn Peter seine Mixtapes mal wieder rauskramen und das Tapedeck anschließen würde - da war er sicher - dann würde sich auch der alte Dual wieder ordnungsgemäß zum Dienst melden. Aber jetzt war der Verstärker abgekackt. Das Herzstück. Die Anlage lag jetzt im künstlichen Koma. Was, wenn das Herz nie mehr richtig schlug? 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)

Keine Mucke mehr. Nur noch Pseudo-Mucke. Am Laptop, am Rechner, vom Mini-iPod mit Stöpseln im Ohr. Das war für Peter nur Ersatzbefriedigung. Music to go. Wie eine schnelle Handentspannung vor der Arbeit. Aber Peter stand mehr auf einen schönen langsamen Sonntagnachmittags-Fick. Das muss das Boot abkönnen, sagte Peter zu sich selbst, als er sich daran machte, den Onkyo aus dem Regal zu operieren. Mannmannmann, gestern noch daran gedacht, wie lange ich die Anlage habe und dass ich so froh bin, dass die noch nicht inne Wicken ist. Und dass die bloß nicht kaputt gehen darf, weil die Teile wahrscheinlich kaum noch jemand reparieren kann, weil es ja kaum noch Radio- und TV-Fachgeschäfte gibt, sondern nur noch diese ätzenden Elektronik-Discounter. Wo keine Fachleute mehr arbeiten, v
on Radio- und Fernseh-Technikern mal ganz zu schweigen, sondern wo man nur noch Verkäufer und Kassierer antrifft. Gestern hatte er noch dran gedacht. Und heute machte der Onkyo die Grätsche. Denken bringt Unglück. Peter Wunderlich war frustriert.    

Herbstputz

Hieß der nicht früher anders? Hm.

(Screenshot: Thomas Ottensmann)

Dienstag, 30. Oktober 2012

Geh mir doch weg VIII: Revanchefoul


"Die Wahrheit“ war seine ganz persönliche Rückschau, seine musikalische Jahresbilanz. Peter Wunderlich ging dafür am Ende eines jeden Jahres quasi immer wieder den 4. Schritt: Er machte eine gründliche und furchtlose Inventur in seinem Inneren. Fiel ihm schwer. Denn er war alles andere als furchtlos. Gut, auch keine jämmerliche Bangebuxe. Aber Peter Wunderlich wusste viel zu gut, was Angst war. Wenn sie über Peter kam, dann kam sie unfair. Und nie allein. Oftmals brachte die Angst gleich ihre Schlägertruppe mit: die Furcht, die Selbstzweifel, die Minderwertigkeitskomplexe und – wenn’s knüppeldick kam - auch noch die üble Depression. Dann fielen sie in wilden Horden über ihn her. Gefesselt und geknebelt hielten sie Peter dann wochen- und monatelang gefangen. An einem sicheren Ort. Dem sichersten Ort der Welt. In seinem Kopf.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)


Nein, Peter Wunderlich war alles andere als ein furchtloser Mensch. Trotzdem zwang er sich von Zeit zu Zeit, den vierten Schritt zu gehen. Er hielt diesen eigentlich recht simplen Arbeitsauftrag für einen der schwierigsten Schritte, die er vor langer Zeit in einem Pfarrhaus in Köln zum ersten Mal gegangen war. Wir machten eine gründliche und furchtlose Inventur in unserem Inneren. Peter war oft daran gescheitert. Einfach, weil er sich nicht aufraffen konnte. Und weil er immer ein wenig Angst davor hatte. Ein wenig? Gelächter. Er hatte die Hose gestrichen voll. Muffe vor dem, was da alles auftauchen würde. Und wozu aufraffen? Er fand doch alles. Gut, das konnte schon mal dauern. Aber er konnte sich nicht daran erinnern, dass er etwas Wichtiges jemals nicht wiedergefunden hätte. Die Steuerunterlagen aus dem Jahr 2010, gut, die waren bis heute noch nicht wieder aufgetaucht. Aber sie mussten noch irgendwo sein. Wirft man ja nicht weg, so einen doofen Ordner. Hatte damals bei der Buchprüfung ein Riesentheater gegeben. Zehn Jahre Aufbewahrungspflicht, blablabla. Ordnungsstrafe, blablabla. Aber sein Steuerfuzzi hatte einen guten Job gemacht. Dafür bezahlte er ihn ja auch fürstlich. So konnte er in seinem Chaos weiter wurschteln und hatte mit dem ganzen Kram nix am 
Hut. Und Holger war seine Kohle wert. Hielt ihm die Aasgeier vom Leib. Und bei ihm dafür mächtig die Hand auf.

Peter hatte sich in seinem Chaos, das wohl nur er als kreativ bezeichnen konnte, häuslich eingerichtet. Sein Kumpel Dazzle, der eigentlich Andreas Dassler hieß, aber vom Englischlehrer Mr. Beckmann auf den angeblich deutlich englischeren Vornamen Dazzle getauft wurde, hatte mal gesagt, es sei ekelhaft, Peter halte sogar in seinem Chaos irgendwie Ordnung. Dafür verachte er ihn. Chaos habe gefälligst unordentlich zu sein, er könne sich mal ein gutes Beispiel an ihm nehmen. Er finde garantiert nichts mehr wieder, wenn er es erst mal in seinem Jugendzimmer versenkt habe. Und so gehöre das auch mit dem Chaos. Dazzle war sein bester Freund. War Dazzle sein bester Freund? Oder nur der, den er am längsten kannte? War das überhaupt ein Unterschied? Was war nochmal ein Freund? Und was ein bester? 

„Nur weil wir hier zusammen an der Theke sitzen und Bier trinken“, hatte Dazzle, der in der 7. Klasse 
hängengeblieben und in Peters Klasse strafversetzt worden war, in sein Guiness gebrummt, „heißt das noch lange nicht, dass wir befreundet sind.“ Muss 1987 oder so gewesen sein. Da kannten sie sich über zehn Jahre. Er hatte sich den Spruch gemerkt. Weil er so beleidigt war. Er hatte Dazzle schon damals für seinen besten Kumpel gehalten. Weil man auch mal über was anderes als immer nur über Weiber und Fußball quatschen konnte. Über Geschichte, über Politik und über die Sinnfrage. Die Frage der Fragen. Wo führte das alles hin, wo sollte das enden? Frau, Kinder, 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Schützenkönig, Reihenendhaus mit Jägerzaun? 

Tja, wie sollte es weitergehen? Peter hatte das noch nie gewusst. Er hatte kein Talent zum Pläneschmieden. Er ging davon aus, dass er eine Frau finden würde, er ging davon aus, dass sie Petra heißen würde. Peter war mit ihr seit seinem 14. Lebensjahr zusammen. Petra hatte ihr Studium in Bochum längst hinter sich gebracht. Kunststück, sie war ja zwei Jahre älter und musste auch nicht zum Bund. Weil Frauen damals sowieso noch gar nicht zum Bund durften. Ja, damals war alles noch überschaubar. Er war mit Petra zusammen, weil er schon immer mit ihr zusammen war. Vorher war nix und danach... - warum sollte es überhaupt ein Danach geben. War das wirklich nötig? Er wusste es nicht. Wozu wechseln, wenn es keinen Grund gab. Eine Rose ist eine Rose ist eine Rose. Petra war Petra und er wusste, was er an ihr hatte. Tanzkurs, Abitur, Freiwilliges Soziales Jahr, Bundeswehr, Studium. Peter und Petra waren immer noch zusammen. Peter stand jetzt selbst kurz vor dem Examen. Petra arbeitete seit einem Jahr bei einer Krankenkasse, die sich wahrhaftig nicht zu blöd war, seit neuestem Gesundheitskasse zu nennen.  „Ja, ich frage dich“, hub Dazzle wieder an und setzte sich - obwohl längst hackedicht - kerzengerade hin, „wie soll das denn weitergehen?“.

'Jede Menge Kohle', 'Die Abfahrer' und 'Treffer'. Ihre Lieblingsfilme waren in ihrem Wortschatz allgegenwärtig - und die Zitate aus den Ruhrpott-Klassikern kamen bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit wie aus der Hüfte geschossen. Vor allem bei Dassler: Wenn es um Sprüche ging, zog Dazzle schneller als Lucky Lukes Schatten. Ja sicha war Dazzle sein bester Kumpel. Und der, zu dem er am längsten nach dem irgendwie abrupten Ende der gemeinsamen Schulzeit 1983 Kontakt gehalten hatte. Sogar ohne große Mühe Kontakt gehalten hatte. 

Er war einfach jedes Wochenende nach Hause gefahren, nach Bösen, ja das Kaff hieß wirklich so. Bösen. Zu seinen Eltern, zu Petra. Und hatte sich dann freitags um 21 Uhr pünktlich bei Pichel eingefunden. Wie verabredet. Nur unverabredet. Da schlugen sie dann nach und nach sowieso alle auf: Dazzle, Lucky, Ernie, Hälfte. Manchmal sogar Karin, Rosi und leider viel zu selten auch Judy, auf die er in der Mittelstufe so scharf gewesen war. Sechs bis acht aus seiner Jahrgangsstufe trafen sie eigentlich immer, Dazzle und er. Danach ging's dann manchmal noch ein Häuschen weiter, in die Korova Milchbar oder ins Zero, der örtlichen Abschleppfabrik. Das war ein Ritual. Seit sie volljährig waren. Also seit einer Ewigkeit.

Rituale hatten Tradition im Sauerland. Die hatte irgendwie jeder in der kalten Heimat. Sein Alter ging sonntagsmorgens frisch rasiert, im Anzug mit Schlips und Kragen ins 
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Hochamt und nach dem Segen dann direkt zum Frühschoppen. In die Alte Post. Sauerland: Kirche, Kneipe, Friedhof, Schützenhalle - alles in einem Radius von weniger als einhundert Metern - eine städteplanerische Meisterleistung. Peters Vatta ging zum Stammtisch der Alteingesessenen in diesem Nest. Immer schon. Peter konnte sich nicht erinnern, seinen Vatta jemals sonntagsmorgens zu Hause gesehen zu haben. Er kam zum Mittagessen. Frühestens. Wenn er nicht direkt aus der Kneipe ins Stadion ging. Er kam vom Frühschoppen wie sonst von der Schicht. Nur nicht so pünktlich. Und deutlich derangierter - und bis zum Stehkragen voll. Der Stammtisch lag so nah bei der Kanzel, von der Pfarrer Pantel simultan in der letzten Messe um 11 Uhr predigte, dass die Nische, in der die „Bösener Jungs“ tagten, wegen ihrer bunten Bleiverglasung „Beichtstuhl“ getauft wurde. Sauerländer Humor. Lachhaft. 

Aber Peter musste gerade reden. Pichel und Korova Milchbar waren genau genommen auch nichts anderes als Abfüllstationen mit originelleren Namen. Für ein jüngeres Publikum. Aber gesoffen wurde hier genauso wie in der Alten Post, der Hängebrücke, der Pension Mähmann und dem Bistro Pompidou. Also saß Peter jeden Freitag bei Pichel und, nun ja, pichelte. Mit Dazzle, seinem besten und ältesten Freund. Aber Freunde, was heißt schon Freunde? 



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„Nur weil wir hier zusammen an der Theke sitzen und Bier trinken?“. Nein, nicht nur, weil sie das taten. Sondern weil sie das immer noch gemeinsam an ein und demselben Ort taten, obwohl ihre Leben längst diametral auseinander gedriftet waren, seit sie 1983 im Heu eines Trecker-Anhängers ihr Reifezeugnis versoffen hatten. Peter war beleidigt, aber ließ es sich nicht anmerken. Eine seiner vielen verborgenen Stärken. Sich nichts anmerken zu lassen. Jede Kränkung, jede Verletzung, jede Unverschämtheit einstecken, wie ein guter Boxer. Damals hatte er geschluckt und einfach zwei Tequilla bei Funny bestellt und bald darauf waren Dazzle und Wunderlich schon wieder kichernd am Tresen zusammengebrochen, als sie die schönsten Anekdoten ihrer Schulzeit plattwalzten. Alles in Butter. Aber Peter Wunderlich wäre nicht Peter Wunderlich, wenn er nicht nachtragend wäre. Wie ein Elefant, dem man als Baby im Zoo eine Erdnuss verweigerte. Peter würde sich diesen Spruch von Dazzle merken. Sehr lange. Immer. Bis ans Ende seiner Tage. Und es ihm heimzahlen. Revanchefoul. Er wartete nur auf die passende Gelegenheit. Und die würde kommen. So sicher wie das Amen in der Kirche. Und das Prösterchen im Beichtstuhl.

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)

Montag, 29. Oktober 2012

Geh mir doch weg VII: Morgen wird gestorben

Roger Trash war zu Besuch. Peter Wunderlich freute sich. Lange nicht gehört, alter Helgoland-Cowboy. Bist viel zu früh abgetreten. Aber schön, dass Du da bist. Endlich nicht 
Die schnellen Schuhe
des Roger Trash.


(Foto (c): Thomas Ottensmann)
mehr allein wandern. „Heute wird gelebt, morgen wird gestorben. Es gibt kein Gestern, nur noch Morgen. Mein Ego geht baden, ich komm nicht mit. Kann nichts dafür, bin so gestrickt.“ Musik im Kopf. Normalzustand. Passierte öfter. Ach was, immer. Eigentlich immer. Außer nachts. Aber konnte er mit Bestimmtheit sagen, dass da nicht auch irgendwo sein ganz eigener Soundtrack unter den Träumen lag? Nein, das konnte er nicht. Wahrscheinlich träumte er nicht nur in Farbe, sondern auch mit eigenem Soundtrack - und gebasteltem Cover. Wie bei seiner Jahresgabe für Freunde, Unterstützer und Förderer, „Die Wahrheit“. Dieser Sampler beschäftigte ihn mindestens zwei Monate, jeden Herbst. Im Kopf. Was nicht das Schlechteste war. Kam man nicht auf dumme Gedanken. Und hielt die Fenster schön geschlossen.
(Photoshop-Friemelei (c):
Thomas Ottensmann)

1999 hatte Peter damit angefangen, Mixtapes für seine Mischpoke zu basteln. Also 90er Mixtapes: selbstgebrannte, eigenartig zusammengestellte CD-Kompilationen mit aufwändig gestalteten Klappcovern. Doppel-CDs waren Standard. Denn 22 Stücke reichten Peter selten, um sein persönliches Jahr in Moll zusammenzufassen. Er sagte anfangs, das sei so was wie eine Bravo-Hits in gut. Aber im Lauf der Jahre hatte sich „Die Wahrheit“ in eine ganz andere Richtung entwickelt. Es war Freude in schlecht. Eine Mollbinde für die Ohren. Oder so. Er hatte mal gelesen, Melancholie sei Freude am Traurigsein. Das gefiel ihm. Er wusste ziemlich genau, was gemeint war. Er mochte Moll. Auch Dur. Aber eher Moll. Fühlte sich für Peter nicht wie Titelmusik für Suizid-Symphatisanten an. „Die Wahrheit“ war Moll. Das gehört so, hätten seine Kumpels im Pott gesagt.  

Was Wunder, "Die Wahrheit" war sein ganz persönliches, ja fast intimes Jahresfazit in Musik. Gute Jahre waren in Dur, schlechte in Moll. Für ein kleines, sehr streng limitiertes Fachpublikum. 10er Auflage, selten mal ne 20er, eine Wahrheit gab es nur dreimal. Manufactum, alles gute deutsche Wertarbeit, Unikate, ein jedes für sich. Handgearbeitet, mundgeblasen und fußbemalt. "Is dat geil! Danke, Alter. Die läuft inner Küche rauf und runter. Die Blagen nehmen die mit in ihr Zimmer und fürs Auto habe ich mir ne Kopie gebrannt. Das erwarten wir ab jetzt jedes Jahresend. Dem kannst du dich nur durch Tod entziehen, dat weißte , woll?", hatte Lars schon nach der Erstauflage gesagt. Ach, Lars, ja das wusste er. Tod war schließlich immer eine Lösung, wenn auch selten die beste.

Wenn er recht überlegte, war kaum eine der 16 Teilwahrheiten in Dur gehalten. Zumindest nicht mehrheitlich. Ja, er war eben eher der Molltyp. Auch wenn ihn Menschen, die ihn kannten und erst recht Menschen, die ihn nicht gut kannten, für einen Humoristen hielten. "Ach ja, den kenne ich. Das ist doch der kleine Dicke, der immer so lustig ist", hatte mal eine entfernte Kollegin zu der anderen gesagt. Er hatte es in der Kantine mitbekommen, weil Frauen ja oft lauter sind, als sie meinen. Nur an den zumeist falschen Stellen. Lustig? Er? Peter Lustig? Haha. Sicher, er nahm seine Rolle als Redaktionszyniker sehr ernst. Ein schmutziger Job, aber einer musste ihn ja machen. 

Und er gefiel sich im Ironisieren, im zynischen Kommentieren des Weltgeschehens. Sarkasmus war eine seiner komplett unverborgenen Stärken. Aber konnte das wirklich eine Stärke sein? Oder war es eine Schwäche? Unfair? Gemein? Bösartig? War Harald Schmidt vielleicht nur ein fieses Arschloch? Er wusste, dass Zynismus lange auf die Kyniker zurückgeführt wurde. Griechische Bettelmönche, die seit über 2500 Jahren Geschichte waren. Trotzdem: Sie hatten wohl seinen liebsten Ismus erfunden. Definitiv. Kynismus hieß wörtlich übersetzt sowas wie Hundigkeit, was Peter heute - als es ihm wieder in den Sinn kam - sehr gut gefiel. Passt, wackelt und hat Luft, raunte er sich in seinen mittlerweile erstaunlich dichten Bart. Zyniker provozieren halt gerne und kommentieren das Geschehen mit Satire. Und legen so den Finger in Wunden, von denen andere sich lieber fernhalten. Weil sie kein Blut sehen können. Die weitergehen, wenn ein Fixer in der Öffentlichen Toilette um Hilfe wimmert, weil die Wucht des viel zu reinen Heroins sein Herz zum implodieren bringt. Neinnein, dachte Peter, Zyniker sind keine Schweine. Sie sind nur anders. Nicht normal. 

(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Wie kam er jetzt eigentlich auf Zynismus? In seinem Kopf nölte gerade Morissey. Herrgott, dachte Peter, mit einem guten Sänger wären die Smiths wirklich eine der größten Bands des Jahrhunderts gewesen. Half nix. Morissey greinte: "Girlfriend in a Coma / I Know, I Know / It's really serious." Weiter kam er nicht, Textschwäche. Peter war nie ein besonders großer Smiths-Fan gewesen, aber das eine oder andere Stück auf diesen beiden Best-Of-Platten war doch vorzüglich. "Panic" etwa, das er bei DJ-Sets eigentlich immer eingebaut hatte - einfach, damit er seinen eigenen Hals an einem imaginären Strick aufhängen, die Zunge in den Mundwinkel packen und die Augen nach oben verdrehen konnte, bis nur noch das Weiße zu sehen war. Kam gut an beim Publikum. "Hang the DJ, Hang The DJ, Hang The DJ" brüllten die Partymädchen dann, wenn er die Regler ein klein wenig nach unten zog. Hach, lange her. 80er Jahre. Zugegeben, ein billiger DJ-Trick. Aber seiner. Hauptsache. Sein Hirn hatte längst eine saubere Blende gefahren. Immer noch die Schmidts: "And if a double-decker bus / Crashes into us / To die by your side / Is such a heavenly way to die / And if a ten ton truck / Kills the both of us / To die by your side  / Is such a heavenly way to die." Himmlische Art, den letzten Pups zu lassen? Köstlich, diese Briten. Ja, er liebte dieses makabre, morbide Denken, dass den Tod auch nur als eine andere Form des Lebens sah und das Sterben lakonisch und selbst-ironisch karikierte. Er hatte sich viel mit dem Sterben und dem Tod beschäftigt. Eigentlich immer schon. Sagen wir mal spätestens seit der Pubertät. Da besonders schlimm. Pubertät halt. Weltschmerz, Daseinsfragen, No Future. Er hatte schon damals etwas, was er Grübelphasen nannte. "Na, biste widder grübelig?", fragte seine Omma dann. Komisch, man konnte ihm das offenbar ansehen. An den Augen. An den Mundwinkeln. An dieser senkrechten Denkfalte auf der Stirn.

Je älter Peter wurde, desto raumfordernder war die Grübeligkeit. Die Jahre wurden schleichend mollliger. Deutlich. Auf's Jahr gerechnet gab es für ihn jetzt, also im zarten Alter von 48, etwa 250 Molltage und 115 Durtage. So ähnlich wie bei der "Wahrheit". Zwei Drittel, ein Drittel. Den Großteil des Jahres flog Peter sehr tief durchs Leben, ein Drittel sehr hoch. Dazwischen, in ausreichender Höhe und auf Sicht, flog Peter so gut wie nie. "Normal ist langweilig", sagte er mal zu seiner Nachbarin Claudia. Sie hatte gemeint, er wüsste gar nicht, wie sehr sie ihn um seine Höhen und Tiefen beneide, bei ihr sei immer alles gleich - "nicht sensationell schön, nicht unerträglich grauenhaft, einfach immer nur normal". Aber er fand die Vorstellung unerträglich. Jeder Tag wie der andere, keine Ausschläge nach oben oder unten. Das sagte er ihr natürlich nicht. "Darauf brauchst Du echt nicht neidisch zu sein. Das ist abwechslungsreich, aufregend und abenteuerlich, aber manchmal auch sehr anstrengend. Und dann hätte ich gerne mal Urlaub von der Achterbahn."

Sicher, es gab Tage, da wäre Peter Wunderlich ganz gern für ein paar Stunden normal gewesen. Dienst ist Dienst, Schnaps ist Schnaps. Und wenn ich krank bin, hole ich mir einen Gelben. Und ich weiß im Herbst schon, wohin ich im Sommer fahre. Und die Brückentage nehme ich sowieso alle mit. Und mit 60 höre ich dann auf zu malochen und das Haus ist mit 55 abbezahlt. Die Blagen sind ausm Haus. Testament ist fertig, jetzt wird restgelebt. Ja sicher, Peter wäre ganz gern mal im Staubmantel der Normalität durchs Leben flaniert, wirklich  gern. Diese Art von Langeweile wünschte er sich. Wenigstens für eine gewisse Zeit. Dabei kam für ihn Langeweile direkt nach Zahnschmerzen. Ein paar 
(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Jahre mal normal sein, derweil die Schäfchen ins Trockene bringen. Den Ball flach halten. Aufdrehen kann ich dann immer noch. Aber so dachte er erst heute, mit fast Fuffzich. Das Bergfest war lange vorbei. Genau genommen war es kurz vor Knapp. Er hatte das 2003 aber nicht gewusst, ein Jahr später immer noch nicht. Und 2009 zur Abwechslung noch nicht mal geahnt. Wie doof konnte man eigentlich sein? Scheint auf der nach oben offenen Dummheits-Skala keine nennenswerten Grenzen zu geben dachte Peter, als er aus dem Buchenwäldchen auf den asphaltierten Weg trat. Fester Boden unter den Füßen. Fühlte sich nicht schlecht an. Ungewohnt, aber definitiv nicht schlecht. Er stand vor dem verblichenen Schild und konnte die rote Schrift auf weißem Grund kaum noch entziffern. Dann hatte er es: "Centrum 7 km".

(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Sonntag, 28. Oktober 2012

Heimat

Huch, soo schön hatte ich das Land der 1000 Berge jetzt nicht mehr in Erinnerung. Himmel!


Besser geht's kaum.

(Fotos (c) Thomas Ottensmann)

Geh mir doch weg VI: Dann hast du in der Not

"Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not", wie Peter Wunderlichs Omma immer zu sagen pflegte. Den Spruch hatte seine Mutter dann solange wiedergekäut, bis er ihm als Kind zwar geläufig, aber deswegen noch lange nicht verständlich war. Zudem: Sparen war nicht Peters Sache. Nie gewesen. Sein Vatta hatte das verstanden, als Einziger. "Du bist wie ich", hatte er zum kleinen Peter gesagt, "hast immer Geld. Und nie." Auch das hatte er als Kind nicht verstanden. Wie auch, wenn es ihm keiner erklärte. Und mit reden hatte man es im Sauerland nicht so. Zumindest nicht mit den Blagen. Die verstanden das ja sowieso nicht. Und Reden war mühsam. Keine Zeit. Keine Lust. 

Und wie sollte das gehen? Immer Geld haben? Nie Geld haben, das verstand er. Immer schon. Gerade noch Taschengeld in der Hosentasche. Dann schon im Konsum Süßigkeiten (ein Snickers, ein Nuts, Gummibärchen und Chipsfrisch ungarisch zu 50 Gramm) und ein Comic-Heft (Fix und Foxi) gekauft. Pleite. Pleite kannte er gut. Als Kind, als Jugendlicher, als Student. Warum nicht auch als Erwachsener? Ebend. Er hasste, es wenn die Leute ebend statt eben sagten. Onkel Helmut war so einer. Immer sagte der ebend! NACKEND wollte Peter rufen! Manchmal tat er das auch, wenn Menschen in seiner hörbaren Umgebung schlechtes Deutsch sprachen. Wenn er auf dem Schulhof zwei Mädchen quasseln hörte: "Und das hätte er zumindestens für mich tun können." ZUMINDEST! Oder auf dem Gebrauchtwagenmarkt im Ruhrgebiet: "Also wegen dem Auto muss ich mich noch mal erkundigen." WEGEN DES AUTOS! Pseudo-Tourette nannten ihn seine Kumpels deshalb in der Oberstufe. 

Spare in der Zeit, dann hast Du in der Not. Peter Wunderlich musste an diesen Spruch denken, als er mit Ische den Wald erreichte und den Karabinerhaken des Halsbands löste. Warum er gerade jetzt an diesen Spruch dachte, wusste er nicht. Seine Gedanken waren Freigeister. Irrlichter. Schienen von Stringenz und kausalen, vielleicht sogar logischen Ketten nichts zu halten. Von Höcksken auf Stöcksken. Und dann die zweite links und die dritte rechts. Und dann fragte er sich oft, wie bin ich denn jetzt darauf wieder gekommen? Vielleicht weil er sehr viel Zeit zum denken hatte? Weil er alles sparen musste, nur nicht Zeit? Weil er in Not war? 

Ach, Not. Was heißt hier Not? Seine Omma wusste noch, was Not war. Sie sagte schlicht und ergreifend: "Ach Junge, wirklich Not leidest Du, wenn Du frierst, Hunger hast oder Krieg ist. Bittere Not, wenn alles zusammenkommt." Das kannte Peter Wunderlich nicht. Wie auch? Er war 1964 geboren und war als Jugendlicher genervt von der ewigen Erzählerei von Krieg, von Hunger und von Armut. Krieg? War der nicht vorbei? Hunger? Muttern kocht gleich. Armut? Das nächste Bafög kommt bestimmt. 

Gespart hatte Peter Wunderlich nie, im Leben nicht! Trotzdem hatte er zuletzt etwas auf der gar nicht mal so hohen Kante gehabt. 5237,41 Euro. Das Bündel in seiner rechten Hosentasche war viel dünner, als man glauben sollte. Vor allem, wenn er daran dachte, dass das der letzte Rest vom Schützenfest war. Zwanzig Jahre malocht, Hochschulabschluss mit "Sehr gut" und das war jetzt alles, was übrig blieb? Aber Peter Wunderlich wollte nicht lamentieren. War nicht sein Ding. Brachte ja keinem was. Das waren - vor der Währung - mal über 10.000 Mark, die er da lose in seiner rechten Hosentasche trug, zusammen mit der Hundepfeife aus Hirschhorn. Soviel Geld hatte er selten flüssig gehabt. War also nicht die schlechteste Situation. Und damit weit entfernt von Not. Gut, er wusste nicht genau, wo er schlafen sollte. Aber schlecht schlafen konnte er überall gut. 


(Foto (c): Thomas Ottensmann)
Peter Wunderlich fror. Die Sonne war vor einer halben Stunde  untergegangen. Der Herbst war schon nach ein paar Tagen längst nicht mehr golden, sondern weiß geworden. Nachtfrost. Und ehe es wieder erträglich warm wurde, dauerte es bis zum frühen Nachmittag. In Süddeutschland hatte es die ersten Schneefälle gegeben. Hatte er an einem Kiosk auf den Tageszeitungen gesehen. Gut, dass er nicht in Süddeutschland war. Aber auch hier, im tiefsten Westen war es empfindlich kalt geworden. Und er war nicht so weit gekommen, wie geplant. Ische hatte mal hier Witterung aufgenommen, war mal dort in einen Teich gehüpft und musste natürlich jedem Kaninchen hinterher. Aber er hatte keinen Zeitplan. Auf ihn wartete auch niemand. 

Aber die Füße taten ihm weh. Er war es einfach nicht gewohnt, den ganzen Tag auf Schusters Rappen zu reiten. Und Hunger hatte er auch. Seinen Proviant hatte er schon lange aufgebraucht. Ein Snickers und eine Banane waren noch übrig. Und für Ische eine Handvoll Trockenfutter und ein letztes Stück Ochsenziemer. Müssen wir wohl mal wieder in die Zivilisation eintauchen, dachte Peter Wunderlich als er nach einem geeigneten Schlafplatz Ausschau hielt. Das würde ihnen wohl nicht erspart bleiben.


(Thomas Ottensmann für: Die Wahrheit. (c) OmO Enterprises 2012)


Freitag, 26. Oktober 2012

Geh mir doch weg V: Zwei Frauen

Ach, so fühlt sich das an, dachte Peter Wunderlich. Er war platt. Frisch verliebt, aber sowas von. Himmel! Volle Lotte verknallt. Einfach so, zack! Sie hieß Bettina. Sie kannten sich schon lange. Sechs Semester, um genau zu sein. Sie war ihm zwar schon an der Uni sofort aufgefallen, aber er hatte nicht gedacht, dass sie ihn auch gut finden würde. Kurze Haare, freche Klappe, schöne Augen und richtig was in der Bluse. An der Uni hatten sie sich zwar mal aus dem Augenwinkel gesehen, im Proseminar 'Neofaschismus in Europa - die neue Rechte' von Professorin Helga Pastor, aber das war halt nur so ein harmloser Augenflirt ohne Folgen. Zudem war Peter Wunderlich immer viel zu sehr mit dieser scharfen Professorin beschäftigt. Solche Frauen kannte er aus dem Sauerland nicht. Kurze blonde Haare, knallroter Lippenstift, kajal-geschwängerte Augen, nachlässig gekleidet. Immer war der Rock knittrig, fehlte an der Weste ein Knopf oder die Seidenstrümpfe hatten eine Laufmasche. Wenn Peter Wunderlich auf ältere Frauen gestanden hätte, wäre Helga Pastor definitiv seine Beute geworden. Aber Peter Wunderlich war gar nicht auf der Jagd. Er war in sicheren Händen. Vergeben. Seit Anbeginn der Zeit, also seit der Pubertät.

Foto (c): Thomas Ottensmann
Mit vierzehn hatte er Petra kennengelernt. Im Tanzkurs, ganz klassisch. 1978 lernte man den Saturday Night Fever. Sogar im Sauerland. Er hatte damals immer den schwulen Tanzlehrer nachgeäfft und die Augen verdreht. Bei Rolle-Rolle, Sei-ten-schritt. Petra musste lachen. Sie war als Altschülerin da. Wegen Frauenmangels hatte der Tanzlehrer seine Lieblingsschülerinnen gebeten doch als Substitutinnen anwesend zu sein. Damit die Blagen endlich die richtige Schrittfolge kapierten. Und damit sie nicht ohne Kontakt zum anderen Geschlecht durch den Kurs mussten. Petra hatte ganze Arbeit geleistet. Und dem kleinen Peter, der sie immer so zum Lachen brachte, die richtigen Schritte beigebracht. Und ein halbes Jahr später dann noch ganz andere Sachen, von denen Peter Wunderlich bis dato nur aus der Bravo wusste. Ja, es war ein Segen, als Vierzehnjähriger eine Freundin zu haben. Nicht nur eine Freundin, sondern eine, die älter war. Petra war schon 16. Und nicht prüde. Alles andere als prüde. Holla! Und da es auf dem Sofa, in Landschulheimbetten und im Zelt auch bestens lief, blieben Peter und Petra zusammen. Einfach so. Gegen jede Vernunft. Weil es so einfach war. So harmonisch. Gestritten hatten sie sich nie. Gab einfach keinen Grund. Es war schön. Es war perfekt. Es war nahtlos. Von der Mutter zur Freundin. Fertig. Das  war's. Abitur, Bundeswehr, Studium - neuneinhalb Jahre immer nur die eine Freundin. Es gab Peter Wunderlich viel. Sicherheit. Struktur. Ordnung. 

Aber jetzt sehnte er sich auf einmal nach Chaos, Freiheit und Abenteuer. Er wollte raus aus seinem alten Leben. Nicht mehr am Wochenende nach Hause, ins Sauerland, in dieses öde Kaff zu den Eltern und der Freundin pendeln. Er wollte auch mal die Samstage und - davor hatte er ein bisschen Angst - die Sonntage in Münster verbringen. Diese Stadt, die ihm immer noch ein bisschen fremd und, ja, auch unheimlich war, schien noch so viel mehr zu bieten, als sie ihm von von Montag bis Freitag offenbarte. Er brauchte eine Fluchthelferin. Bettina schien dafür genau die Richtige. Sie verstanden sich schon lange gut, als Freunde. Sie sahen sich fast jeden Tag, nicht nur an der Uni, sondern zuhause. Ihre beiden WGs waren verbandelt. Durch Jenny und Caspar, die seit sechs Wochen zusammen waren. Peter wohnte seit dem ersten Semester mit Caspar und Vroni zusammen. Ralph und Vroni hatten zusammen mit Bettina in Essen Abi gemacht. Und jetzt war Caspar mit Jenny zusammen, die mit Bettina und Michael in einer WG im Kreuzviertel wohnte. Von da ins Hansaviertel war es nur ein Katzensprung. Also sprangen die Katzen munter hin und her. Aber jetzt war alles anders. Bettina war über Nacht geblieben und hatte sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass sie Peter auch zwischenmenschlich, nun ja, sehr wertschätzte. Und für Peter war klar, dass diese Nacht der Anfang von etwas ganz Besonderem war. 

Sie waren erst durch die Kneipen und Clubs gezogen, um sich vom Studium abzulenken. Im Can-Can, der angesagtesten Disco hatten sie Tequilla wie Wasser gesoffen und Bettina hatte ihn angestiftet, den Salzstreuer mitgehen zu lassen. Er hatte gehorcht. Dann waren sie Fritten essen gegangen, um schnurstracks in seinen Kinostühlen zu landen, die seit Urzeiten in seiner Studentenbude standen. Von den Kinostühlen bis in sein Bett waren es anderthalb Meter. War zu packen. Sie hatten viereinhalb Minuten gebraucht. Die Rolladen runtergelassen und die Vorlesung Vorlesung sein lassen. Das Leben war schön. Die Sonne ging auf. Und Peter Wunderlich wurde klar: Ich habe ein Problem. Zwei Frauen.